Neulich im Internet, auf der Plattform Zoom, bist du getestet worden. Lass mich ausholen: Du bist es womöglich, warum ich bisher keiner Performance der Theaterfamilie Nesterval beigewohnt habe – auch wenn ich aufmerksam Ankündigungen und Besprechungen von deren Produktionen verfolgt habe. Lieber als du, das du mit Partizipation und Immersion auftauchst, war mir nämlich die passive Zuschauerrolle. Gewöhnlich beobachte ich kreative Prozesse, statt mich interaktiv einzubringen.
Zu dir haben sich in letzter Zeit eine neue Skepsis und Neugier gesellt. Seit dem Ausbruch der Pandemie habe ich verfolgt, wie gleichzeitig eine Online-Kulturszene wächst und kritische Stimmen, ob Streaming die Aufführungen ersetzen kann. Ich war skeptisch in Bezug auf Sinn und Unsinn des isolierten Rezipierens von abgefilmtem Material vor dem Bildschirm. Und ich wollte dringend wissen: Ist ein immersives Setting, das Nesterval nun auch in der ersten Stay-At-Home-Internetperformance schaffen möchte, die bestmögliche Art von Online-Theater? Weil ein gemeinsames Erleben, das gerade immens fehlt, so auch im virtuellen Raum möglich wird? Ich habe dich also ignoriert und Nesterval zum „Kreisky-Test“ getroffen.
Quer durch Wien und möglicherweise in der weiteren Umgebung, in rund zwanzig Homeoffices, werden Laptops und PCs aktiviert (in englischsprachigen Time-Slots auch im Ausland, ermöglicht im Netzwerk „BeSpectACTive“). Gut 30 Menschen platzieren sich vor Screens. Auf einem klickt jemand auf das blaue Quadrat mit weißem Icon: Zoom-Meeting starten, durchs Netz läuft das Signal weiter. Für die nächsten 80 Minuten sind wir vor den Geräten für ein Abenteuer verbunden. In meiner Wohnung sitze ich allein vorm Schreibtisch, mein Zeigefinger tippt auf die Maus, öffnet verhalten die Anwendung, erlaubt unausweichlich Ton- und Videofreigabe. Ich lande mit fremden Gesichtern im ersten Raum der Performance. Die sonore Stimme von Analyse078 empfängt mich. Ich lerne von ihr die Regeln und über sie meinen Spielpartner kennen: Zu zweit stellen wir eines von acht Tester*innenteams, unsere Video-Fenster stehen den Kästchen von Testprobanden aus dem Ensemble gegenüber, die auch in Zweierteams antreten. Die Analyse bleibt gesichtslos, ihre Videos aus, doch ich zähle mit der Zeit an die sechs Stimmen – sie beobachten, mahnen, helfen, verschieben uns in Räume, wo wir einander in diversen Konstellationen treffen. Big Brother und Big Data winken, als ich sie in mein Schlafzimmer lasse, mich vor der Kameralinse exponiere. Die Immersion verlangt nach dieser Intimität, ich bin dabei. Trotzdem offenbart das Spiel mitunter, was ich mich öfter fragen sollte: Was bin ich bereit, online preiszugeben, und wem eigentlich? Auch die Probanden stellen sich pikanten privaten Fragen, hinter denen sich große gesellschaftsrelevante verstecken. Wir Teilnehmer diskutieren fauchend und räsonierend, belohnen die glaubwürdigste Gesinnung und die sozial gerechteste Werteanschauung. Im Geiste von Gertrude Nesterval, die das Verfahren einst in den 1970ern konzipiert haben soll, suchen wir die Person mit der besten sozialistischen Ideologie. Wir bestimmen hier die Zukunft der Sozialdemokratie mit, ist es so?
In einem Zoom-Zimmer: Unter dem roten Gesichtsbalken hervor fixieren mich die forschenden Augen von Jo. An der Wand hinter seinen nervösen Schultern klebt ein Foto von Gertrud Nesterval, ansonsten ist der Raum leer und rot: seine Teamfarbe. Jo sitzt in einem schwarzen Pullover vor mir, den Kopf bedeckt eine Haube, darunter lugt eine Haarsträhne hervor. Vieles wirkt auf mich, als hätte er etwas zu verbergen. Wir mustern ihn kurz still. „Ich bin der Jo, wen haben wir hier?“ Gestikulierend vertraut er uns an, dass er seit zehn Tagen in einem Bunker ausharre, und will meine Lebenssituation und Meinung wissen. „Was sagst du dazu?“ Wir stellen gemäß Skript und aus dem Bauch heraus gegenseitig Fragen, es entspinnt sich ein Plädoyer für Solidarität und Selbstaufgabe. Wie weit geht man für die Ideale? „Ich habe auch Angst vor dem Draußen, dem Virus, der Klimakatastrophe, versteht ihr..“ Schroff unterbricht Analyse078. „Achtung, Achtung“. Jos erschrockene Augen schielen im Zoom-Feld nach oben: Zum Lautsprecher? Die fingierte Bunkersituation stellt das Gerüst; wie der Test verläuft, hängt auch von mir ab: Von meinen Reaktionen, meiner Einschätzung, und in Verhandlungen der Teams.
Zuvor ist Christopher Wurmdobler, der Jo verkörpert, wie alle der Schauspieler in der Privatwohung vom Alltag in den Charakter gewechselt. Hat Kostüm und Make-Up angelegt, das Bühnenbild im Arbeitszimmer betreten, den Videoausschnitt zurechtgerückt, in Zoom eingecheckt. Dann ist er Jo, der wie die anderen Figuren Nähe aufzubauen versucht – trotz Screens zwischen den Beteiligten, die einander nicht körperlich tasten und Reaktionen nicht unmittelbar deuten können. Ein Ausloten der Möglichkeiten im kleinen Zoom-Rahmen: Wie bewegt man sich vor der Linse sitzend durch virtuelle Räume, kann mit Augenkontakt und direkten Ansprachen eine ähnliche Intensität erreichen wie offline? Ein Glücksfall, dass das Projekt von vornherein auf eine enge räumliche Situation angelegt gewesen sei: „Es passt einfach so gut zur aktuellen Abgeschiedenheit“, sagt Wurmdobler später.
Ähnlich habe auch ich es empfunden. Gerade in der Corona-Isolation offenbart sich mir der Mehrwert des gemeinsamen Spiels – statt einseitig zu konsumieren sind wir hier alle Akteure, verbunden, um miteinander etwas zu gestalten. Das Politische, das ob der knappen Testzeit inhaltlich recht oberflächlich bleibt, liegt wohl eher in diesem Lernprozess. Später betont auch Regisseur Martin Finnland im Publikumsgespräch, dass Nesterval keine vorgefertigten Antworten bereitstellt, sondern vielmehr einen Raum zum Austausch, zum Aufwerfen von Fragen, zum spielerischen Ausleben von Ideen. Für mehr Engangement. Ja, das war auch via Zoom erlebbar. (Goodbye) Kreisky sei Dank.
Freundschaft, mein Unbehagen!
Magdalena Mayer lebt in Wien und arbeitet als Programmredakteurin und Journalistin mit den Schwerpunkten Kultur, Reise und Umwelt. Sie hat Publizistik und Kulturwissenschaften studiert und schreibt momentan ihre Masterarbeit in Vergleichender Literaturwissenschaft über die hybride Verschränkung von Text und Bild in experimenteller Gegenwartsliteratur.
Der Kreisky-Test ist eine Koproduktion von Nesterval, brut Wien und Be SpectACTive!
Be SpectACTive! ist ein umfangreiches europäisches Kooperationsprojekt, das vom Programm Creative Europe der Europäischen Union kofinanziert wird und im Bereich darstellender Kunst in Form von künstlerischen Produktionen und partizipativen Praktiken tätig ist, mit dem Ziel, Bürger*innen und Zuschauer*innen in kreative und organisatorische Prozesse einzubeziehen. Mitglieder sind europäische Festivals, Theater, Kulturorganisationen, Universitäten und ein Forschungszentrum.
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