Die Frage, wer oder was repräsentiert werden soll, zieht weitere Kreise als die meisten Versammlungen mit ihrem Fokus auf den Menschen. In seiner fundamentalen Kritik der Moderne hat der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour bereits 1989 ein „Parlament der Dinge“ skizziert, in dem Menschen, Tiere, Pflanzen und Objekte gemeinsam bestimmen, wie sie überhaupt entscheiden könnten und wie sie zusammenleben wollen. Dreißig Jahre später resümiert Latour: „Es geht nicht mehr darum, Nicht-Menschen Rechte zuzugestehen, sondern zu akzeptieren, von ihnen abhängig zu sein.“ Doch was heißt das eigentlich? Wie kann eine nicht-menschliche Repräsentation aussehen, was wäre eine nicht-anthropozentrische Versammlung? In der 15. Ausgabe von The Art of Assembly preist die Theatergruppe andcompany&Co. die Intelligenz der Insekten und überlegt, sich in ANTCOMPANY umzubenennen, während die Philosophin Eva von Redecker eine „Revolution for Life" vorschlägt, um dem Gefängnis des Kapitalismus zu entkommen und neue Formen der Solidarität zu finden: Fürsorge statt Herrschaft, Regeneration statt Verwertung, Teilhabe statt Ausbeutung.
XV: Parliaments of Things and Beings (Eva von Redecker, Alexander Karschnia/andcompany&Co. & Florian Malzacher)
Von Lenin bis Lennon, von Karl Marx bis Karl May...Mit exzessiven Wortspielen und überbordenden Pop-Zitaten macht andcompany&Co. aus Berlin seit fast 20 Jahren unverwechselbares politisches Theater: Kommunismus, Kapitalismus, Kolonialismus – und auch die Tagespolitik sind mit von der Partie. Schon der Name der Gruppe ist ein Manifest in Kurzform: Seit ihrer Gründung 2003 in Frankfurt/M. durch Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma haben sie ein großes Netzwerk an künstlerischen und politischen Mitstreitern geschaffen. Alle Arbeiten werden in Co-Autorenschaft mit allen Beteiligten entwickelt. Wie keine andere Gruppe ihrer Generation verbinden sie Dada-Humor, Pop-Kultur, historischen Ernst und politischen Aktivismus: von der Goldgräberstadt Mahagonny, die Brecht beschrieb, bis zur technologischen „Singularität“, die Heiner Müller in seinem späten Leben fürchtete, vom stalinistischen Albtraum bis zu Walt Disneys Traumwelt, von den mythologischen Wurzeln Europas bis zur aktuellen Situation an den Grenzen – alle Arbeiten von andcompany sind Reisen im vielfältigen Sinne des Wortes (territorial, historisch, psychologisch). Neben Performance-Stücken im Rahmen der freien Szene (HAU Hebbel am Ufer, Forum Freies Theater FFT, Mousonturm etc.) und Lecture-Concerts produzieren sie Theaterstücke mit Ensembles von Staatstheatern (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz) und Hörspiele. Ihre Arbeiten wurden auf Festivals in aller Welt von Brüssel bis Shanghai gezeigt.
Eva von Redecker ist eine politische Philosophin, die sich mit Theorien zu Eigentum, sozialem Wandel und (Un-)Freiheit beschäftigt. In den Jahren 2020/21 erhielt sie ein Marie-Skłodowska-Curie-Stipendium am PoliTeSse Centre (Universität Verona). Ihr Projekt untersuchte den Zusammenhang zwischen Autoritarismus und besitzergreifendem Individualismus, aufbauend auf dem Begriff des „Phantombesitzes“, der in „Ownership's Shadow“ (Critical Times 3:1, 2020) vorgeschlagen wurde. Eva von Redeckers Doktorarbeit über sozialen Wandel mündete in der Monographie Praxis and Revolution (Columbia UP, 2021). Neben ihrer akademischen Arbeit schreibt sie auch öffentlichkeitswirksame philosophische und literarische Essays; ihr Publikumsbuch über neue Formen des Protests, Revolution für das Leben, erschien 2020 auf Deutsch und wird derzeit ins Französische, Koreanische, Spanische und Griechische übersetzt.
Ob in Tunis, Kairo, Madrid, Lissabon, in Athen, New York, London oder Istanbul, in Tokio nach Fukushima, inmitten von Niemeyers ikonischer Parlamentsarchitektur in Brasília, unter den Regenschirmen in Hongkong, auf den Straßen von Minneapolis: Die weltweiten sozialen Bewegungen der letzten Jahre waren immer auch geprägt von der Suche nach alternativen Formen des Versammelns, des Argumentierens und des Entscheidens, des Aushandelns von Gemeinschaft und Gesellschaft. Solche Versammlungen wirken nicht nur durch ihre Forderungen. Sie verändern die Realität oft bereits dadurch, dass sie radikalere Modelle von Demokratie praktizieren.
Auch innerhalb der Künste gibt es erneut ein Interesse an Konzepten der Versammlung und am Erzeugen öffentlicher Räume, in denen die Gesellschaft nicht nur gespiegelt, sondern konsequent ausprobiert, aufgeführt, getestet, anders gedacht oder gar neu erfunden wird: Gerichtsverhandlungen über Kunstfreiheit, Religion und Zensur; Tribunale über Ausbeutung und Gewalt; Gipfeltreffen über Klimawandel oder Kulturpolitik; Parlamente, in denen diejenigen sprechen, die sonst zum Schweigen gebracht werden … Insbesondere das Theater ist zu einer Bühne für Versammlungen auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Wirklichkeit geworden, zu einer demokratischen Arena der radikalen Imagination.
Doch welche Zukunft hat die Idee der Versammlung nach Monaten eines Ausnahmezustands, der so ziemlich alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens aus dem Takt gebracht hat? Gesellschaftsspiele: The Art of Assembly bringt seit Herbst 2020 regelmäßig Protagonist*innen aus verschiedenen Bereichen von Kunst, Politik und Theorie zusammen, um über die Zukunft der Versammlung zu spekulieren – in einer Zeit, in der wir gelernt haben, wie flüchtig Gewissheiten sein können, und in der jede Form des physischen Miteinanders prekär geworden ist.
Florian Malzacher ist freier Kurator, Dramaturg und Autor. Von 2012 bis 2017 war er Künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festivals (Düsseldorf, Köln und Mülheim/Ruhr), davor sieben Jahre Leitender Dramaturg / Kurator des Festivals steirischer herbst (Graz). Er (co-)kuratierte u. a. die Internationale Sommerakademie (Mousonturm Frankfurt, 2002 und 2004), Dictionary of War (2006/07), Truth is Concrete in Graz (2012), Aneignungen im Ethnologischen Museum Berlin / Humboldt Lab (2015), Artist Organisations International (HAU Berlin, 2015), Vom Möglichkeitssinn zum Jahrestag der Russischen Revolution (St. Petersburg, 2017), Training for the Future (mit Jonas Staal, Ruhrtriennale, 2018/19) und Nach dem Beaufsichtigen der Maschinen (2020). Als Dramaturg arbeitete er u. a. mit Rimini Protokoll, Lola Arias (ARG), Mariano Pensotti (ARG) oder Nature Theater of Oklahoma (USA). Florian Malzacher ist Herausgeber und Autor zahlreicher Essays und Bücher zu Theater und Performance sowie zum Verhältnis von Kunst und Politik. Zuletzt erschien 2020 sein Buch Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute im Alexander Verlag Berlin.
Die Reihe The Art of Assembly basiert auf Florian Malzacher, Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute, Berlin: Alexander Verlag, 2020, www.art-of-assembly.net.
Bisherige Gäste Didier Eribon, Chantal Mouffe, D‘Souza & Sibylle Peters, Eduard Freudmann, Gin Müller, Heidrun Primas, Philine Rinnert, Claudia Bosse, The Church of Stop Shopping, Alia Mossallam, Jonas Staal, Jodi Dean, Oliver Ressler, Julia Ramírez-Blanco, Oliver Marchart, Dana Yahalomi. Zukünftige Gäste u. a. Nora Sternfeld u.a. andcompany&Co., School of Activism / NT Gent mit Milo Rau u.v.m.
The Art of Assembly – Gesellschaftsspiele, eine Reihe von Florian Malzacher und brut Wien, in Kooperation mit Münchner Kammerspiele, Wiener Festwochen, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Berlin), BIT Teatergarasjen / METEOR 2021 und Goethe-Institut / Performing Architecture.
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brut nordwest
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