Du hast einen medizinischen Hintergrund – wie bist du zur Performancekunst gekommen?
Ich bin zur Kunst gekommen, weil da sehr viel Freiheit ist in dem, wie man sich mit Dingen auseinandersetzen kann. In den Naturwissenschaften oder vielleicht genereller in den meisten Wissenschaften arbeitet man immer in einem bestimmten methodischen Rahmen. Die Physik abstrahiert die Welt anders als die Chemie oder die Biologie, und jedes Mal entsteht dabei ein mehr oder weniger kohärentes, kongruentes Modell. Will man nun allerdings sehr verschiedene Dinge in einen Zusammenhang bringen, muss man diese Modelle in eine gemeinsame Sprache übersetzen, und das ist mit Limitationen verbunden – die Wissenschaftstheorie nennt das das Translationsproblem. In der Kunst hat man das praktisch gar nicht, weil es keine standardisierte Methode gibt. Dadurch hat man die Möglichkeit, mit dem, was man macht, einen ganz anderen Denkraum zu eröffnen und sehr unterschiedliche Dinge in Resonanz treten zu lassen.
Inwiefern haben deine Erfahrungen aus der Medizin deine künstlerische Arbeit beeinflusst?
Der Schritt von der bildenden Kunst zur Performance hatte viel mit der Medizin zu tun: Im Rahmen meines Kunststudiums habe ich einen Performancekurs bei Lucie Strecker besucht, in dem wir sehr experimentell gearbeitet und auch viel ausprobiert haben. Da begann ich, mir Gedanken über die medizinische Methode und ihre Konventionen zu machen, aber aus einer künstlerischen Perspektive: Wie viel Performance liegt in jeder Interaktion zwischen Ärzt*in und Patient*in, und was macht man eigentlich, wenn man eine medizinische Anamnese erhebt oder ein therapeutisches Gespräch führt?
Was war der Ausgangspunkt deiner Recherche?
Der Ausgangspunkt meiner Recherche war eigentlich meine Doktorarbeit vor vielen Jahren, da ging es um höhere kognitive Funktionen und soziale Kognition. Damals wollte ich Hirnforscherin werden und verstehen, wie Menschen funktionieren, mit schönen Bildern von Gehirnen, auf denen etwas bunt ist, und dann kann man sagen: „Ah! Das ist Bewusstsein.“ Und dann habe ich mich während des Medizinstudiums auch viel mit Kommunikationstechniken beschäftigt. Bezogen auf die künstlerische Recherche ging es dann am Anfang vor allem darum, wie man das in einem völlig anderen Kontext umsetzen kann, und das war dann eine Frage des Ausprobierens.
Welche Rolle spielen dabei Fragebögen?
Während dieser Doktorarbeit, die ich übrigens nie fertiggestellt habe, und generell während des Medizinstudiums habe ich viel mit medizinischen und psychologischen Fragebögen gearbeitet. Gewissermaßen stellt jeder dieser Fragebögen einen Versuch dar, das Dilemma zwischen quantitativer und qualitativer Welterschließung aufzulösen, besonders in der Psychiatrie: Möchte ich solide Daten, die standardisiert sind und mit denen man gute Statistik machen kann, sodass man über viele Menschen eine Aussage treffen kann? Oder möchte ich besonders genau erfassen, was in einem Menschen vorgeht? Wenn man sich zu sehr auf Ersteres konzentriert, läuft man Gefahr, nicht mehr das zu erfassen, was man eigentlich erfassen will, nämlich psychologische Phänomene, die ja sehr subjektiv sind. Und wenn man sich zu sehr auf Zweiteres konzentriert, hat man am Ende einen Berg subjektiver Erfahrungshorizonte, aus denen man keine wissenschaftliche Aussage ableiten kann.
Das Resultat ist ein sehr heterogenes Sammelsurium an Fragebögen, von denen jeder als Instrument zur Erfassung von jeweils irgendetwas entwickelt wurde, Empathiefähigkeit oder Intelligenz oder Gemütszustand oder was auch immer. Und da fragt man sich dann oft, sagt das jetzt etwas über mich oder über einen Menschen generell aus? Was bedeutet es für die Interaktion zwischen Ärzt*in und Patient*in, dass oft einfach eine Liste abgefragt wird? Gleichzeitig beschränkt sich der Einsatz von Fragebögen ja nicht auf die Medizin – von der Zeitschrift, die uns sagt, welcher Flirttyp wir sind, bis zur Bildungsberatung, in der wir erfahren, welcher Beruf zu uns passt, werden Fragebögen in vielen Bereichen eingesetzt. Aber was bedeutet diese Vermessung von uns selbst für unser Konzept des Menschseins? Das finde ich interessant.
Was sind deine Erfahrungen aus früheren Arbeiten, die du in dieses Projekt mitnimmst?
Etwas zu erarbeiten dauert immer doppelt so lange, als man denkt. Weniger ist oft mehr – Reduktion hilft, einen Fokus zu erzeugen. Und man kann den Leuten ruhig etwas zumuten.
Das Interview wurde im Jänner 2021 geführt. Aufgrund der aktuellen Situation kann die Performance nicht wie geplant als Live-Version stattfinden. Laura Stoll hat eine eigenständige filmische Version ihres Projekts erarbeitet, die im Rahmen des imagetanz Festivals im März als Online-Filmpremiere mit Artist Talk präsentiert wird.
accessible
Nordwestbahnstraße 8-10, 1200 Vienna
Subway: U1, U2 (Praterstern), U4 (Friedensbrücke), U6 (Dresdnerstraße) Tram: 5 (Nordwestbahnstraße) Bus: 5A (Wasnergasse)
accessible
not accessible
Zieglergasse 25, 1070 Wien
Subway: U3 (Zieglergasse), Tram: 49 (Westbahnstraße / Zieglergasse)
not accessible