Inspiriert von Volkstribunalen wie demjenigen, das der Philosoph Bertrand Russell 1966 zur Untersuchung amerikanischer Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg organisierte, aber auch von künstlerischen Einflüssen wie Brechts Lernspielen oder dem populären Agitprop-Theater der frühen Sowjetunion, sind Bürgergerichte zwischen Aktivismus und Kunst zu einer dramaturgischen Form und einem politischen Instrument zugleich geworden.
Die 20. Ausgabe von The Art of Assembly befasst sich mit konkreten Versuchen, symbolische Gerechtigkeitsübungen in konkrete Veränderungen zu verwandeln: Die Kunsthistorikerin und Aktivistin Lisa Ito-Tapang führt durch verschiedene historische Volkstribunale auf den Philippinen, die bis heute gegen Staatsterrorismus kämpfen. Wolfgang Kaleck, Gründungsdirektor des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und Anwalt von Dissidenten wie Edward Snowden, gibt Einblicke in das Kongo-Tribunal von Milo Rau und verbindet das Politische und Künstlerische mit dem juristischen Kampf für Menschenrechte in aller Welt. Die Aktivistin, Autorin und Künstlerin Madlyn Sauer zeigt, wie die nichtstaatlichen Tribunale, die parallel zu den staatlichen Prozessen gegen die rechtsextreme Terrorgruppe NSU in Deutschland einberufen wurden, mit ästhetischen und transformativen Mitteln andere Formen der Anerkennung und Gerechtigkeit praktizieren.
Über die Reihe Gesellschaftsspiele: The Art of Assembly
Ob in Tunis, Kairo, Madrid, Lissabon, in Athen, New York, London oder Istanbul, in Tokio nach Fukushima, inmitten von Niemeyers ikonischer Parlamentsarchitektur in Brasília, unter den Regenschirmen in Hongkong, auf den Straßen von Minneapolis: Die weltweiten sozialen Bewegungen der letzten Jahre waren immer auch geprägt von der Suche nach alternativen Formen des Versammelns, des Argumentierens und des Entscheidens, des Aushandelns von Gemeinschaft und Gesellschaft. Solche Versammlungen wirken nicht nur durch ihre Forderungen. Sie verändern die Realität oft bereits dadurch, dass sie radikalere Modelle von Demokratie praktizieren.
Auch innerhalb der Künste gibt es ein erneutes Interesse an Konzepten der Versammlung und am Erzeugen öffentlicher Räume, in denen die Gesellschaft nicht nur gespiegelt, sondern konsequent ausprobiert, aufgeführt, getestet, anders gedacht oder gar neu erfunden wird: Gerichtsverhandlungen über Kunstfreiheit, Religion und Zensur; Tribunale über Ausbeutung und Gewalt; Gipfeltreffen über Klimawandel oder Kulturpolitik; Parlamente, in denen diejenigen sprechen, die sonst zum Schweigen gebracht werden … Insbesondere das Theater ist zu einer Bühne für Versammlungen auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Wirklichkeit geworden, zu einer demokratischen Arena der radikalen Imagination.
Doch welche Zukunft hat die Idee der Versammlung nach Monaten eines Ausnahmezustands, der so ziemlich alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens aus dem Takt gebracht hat? Gesellschaftsspiele: The Art of Assembly bringt Protagonist*innen aus verschiedenen Bereichen von Kunst, Politik und Theorie zusammen, um über die Zukunft der Versammlung zu spekulieren – in einer Zeit, in der wir gelernt haben, wie flüchtig Gewissheiten sein können, und in der jede Form des physischen Miteinanders prekär geworden ist.
Die Reihe Gesellschaftsspiele: The Art of Assembly basiert auf
Florian Malzacher, Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute, Berlin: Alexander Verlag, 2020, www.art-of-assembly.net.
Florian Malzacher ist freier Kurator, Dramaturg und Autor. Von 2012 bis 2017 war er künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festivals (Düsseldorf, Köln und Mülheim an der Ruhr), davor sieben Jahre leitender Dramaturg/Kurator des Festivals steirischer herbst (Graz). Er (co-)kuratierte u. a. die Internationale Sommerakademie (Mousonturm Frankfurt, 2002 & 2004), „Dictionary of War“ (2006/07), „Truth is Concrete“ in Graz (2012), „Aneignungen“ im Ethnologischen Museum Berlin / Humboldt Lab (2015), „Artist Organisations International“ (HAU Berlin, 2015), „Vom Möglichkeitssinn“ zum Jahrestag der Russischen Revolution (St. Petersburg, 2017), „Training for the Future“ (mit Jonas Staal, Ruhrtriennale, 2018/19) und „Nach dem Beaufsichtigen der Maschinen“ (2020). Als Dramaturg arbeitete er u. a. mit Rimini Protokoll, Lola Arias (AR), Mariano Pensotti (AR) und Nature Theater of Oklahoma (US). Florian Malzacher ist Herausgeber und Autor zahlreicher Essays und Bücher zu Theater und Performance sowie zum Verhältnis von Kunst und Politik. Zuletzt erschien 2020 sein Buch Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute im Alexander Verlag Berlin.
Mit Judith Butler,Oliver Marchart, Chantal Mouffe, Antonio Negri, Sibylle Peters, Julia Ramírez-Blanco, Milo Rau, Oliver Ressler, Dana Yahalomi / Public Movement, Jodi Dean, Jonas Staal u. v. m. Kuratiert von Florian Malzacher. Eine Produktion von brut – Koproduktionshaus Wien GmbH. In Kooperation mit Goethe Institut – Performing Architecture, Münchner Kammerspiele, Wiener Festwochen, Kunsthalle Wien, Volksbühne (Berlin), BIT Teatergarasjen (Bergen), Theater Neumarkt (Zürich), NT Gent.
INFO: Eine Anmeldung ist nur nötig für den Besuch der Veranstaltung im brut nordwest. Der Livestream ist ohne Anmeldung auf brut-wien.at zugänglich.
brut nordwest
Nordwestbahnstraße 8-10, 1200 Wien