Die Frage, wer oder was repräsentiert werden soll, zieht weitere Kreise als die meisten Versammlungen mit ihrem Fokus auf den Menschen. In seiner fundamentalen Kritik der Moderne hat der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour bereits 1989 ein „Parlament der Dinge“ skizziert, in dem Menschen, Tiere, Pflanzen und Objekte gemeinsam bestimmen, wie sie überhaupt entscheiden könnten und wie sie zusammenleben wollen. Dreißig Jahre später resümiert Latour: „Es geht nicht mehr darum, Nicht-Menschen Rechte zuzugestehen, sondern zu akzeptieren, von ihnen abhängig zu sein.“ Doch gerade das anthropozentrische Medium Theater tut sich schwer mit Entwicklungen, die den Menschen aus dem Zentrum des Denkens und Fühlens verbannen: Eine Topfpflanze auf der Bühne begründet kein Parlament der Dinge; Tauben als Protagonisten begründen keinen Posthumanismus. In der 12. Ausgabe von The Art of Assembly beschreibt die Wissenschaftlerin und Regisseurin Frédérique Aït-Touati ihre langjährige Zusammenarbeit mit Latour an einem „Theater der Verhandlung“. Die Theatergruppe andcompany&Co. lobt die Intelligenz der Insekten und erwägt, sich in antcompany umzubenennen.
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Ob in Tunis, Kairo, Madrid, Lissabon, in Athen, New York, London oder Istanbul, in Tokio nach Fukushima, inmitten von Niemeyers ikonischer Parlamentsarchitektur in Brasília, unter den Regenschirmen in Hongkong, auf den Straßen von Minneapolis: Die weltweiten sozialen Bewegungen der letzten Jahre waren immer auch geprägt von der Suche nach alternativen Formen des Versammelns, des Argumentierens und des Entscheidens, des Aushandelns von Gemeinschaft und Gesellschaft. Solche Versammlungen wirken nicht nur durch ihre Forderungen. Sie verändern die Realität oft bereits dadurch, dass sie radikalere Modelle von Demokratie praktizieren.
Auch innerhalb der Künste gibt es erneut ein Interesse an Konzepten der Versammlung und am Erzeugen öffentlicher Räume, in denen die Gesellschaft nicht nur gespiegelt, sondern konsequent ausprobiert, aufgeführt, getestet, anders gedacht oder gar neu erfunden wird: Gerichtsverhandlungen über Kunstfreiheit, Religion und Zensur; Tribunale über Ausbeutung und Gewalt; Gipfeltreffen über Klimawandel oder Kulturpolitik; Parlamente, in denen diejenigen sprechen, die sonst zum Schweigen gebracht werden … Insbesondere das Theater ist zu einer Bühne für Versammlungen auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Wirklichkeit geworden, zu einer demokratischen Arena der radikalen Imagination.
Doch welche Zukunft hat die Idee der Versammlung nach Monaten eines Ausnahmezustands, der so ziemlich alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens aus dem Takt gebracht hat? Gesellschaftsspiele: The Art of Assembly bringt seit Herbst 2020 regelmäßig Protagonist*innen aus verschiedenen Bereichen von Kunst, Politik und Theorie zusammen, um über die Zukunft der Versammlung zu spekulieren – in einer Zeit, in der wir gelernt haben, wie flüchtig Gewissheiten sein können, und in der jede Form des physischen Miteinanders prekär geworden ist.
Florian Malzacher ist freier Kurator, Dramaturg und Autor. Von 2012 bis 2017 war er Künstlerischer Leiter des Impulse Theater Festivals (Düsseldorf, Köln und Mülheim/Ruhr), davor sieben Jahre Leitender Dramaturg / Kurator des Festivals steirischer herbst (Graz). Er (co-)kuratierte u. a. die Internationale Sommerakademie (Mousonturm Frankfurt, 2002 und 2004), Dictionary of War (2006/07), Truth is Concrete in Graz (2012), Aneignungen im Ethnologischen Museum Berlin / Humboldt Lab (2015), Artist Organisations International (HAU Berlin, 2015), Vom Möglichkeitssinn zum Jahrestag der Russischen Revolution (St. Petersburg, 2017), Training for the Future (mit Jonas Staal, Ruhrtriennale, 2018/19) und Nach dem Beaufsichtigen der Maschinen (2020). Als Dramaturg arbeitete er u. a. mit Rimini Protokoll, Lola Arias (ARG), Mariano Pensotti (ARG) oder Nature Theater of Oklahoma (USA). Florian Malzacher ist Herausgeber und Autor zahlreicher Essays und Bücher zu Theater und Performance sowie zum Verhältnis von Kunst und Politik. Zuletzt erschien 2020 sein Buch Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute im Alexander Verlag Berlin.
Die Reihe The Art of Assembly basiert auf Florian Malzacher, Gesellschaftsspiele. Politisches Theater heute, Berlin: Alexander Verlag, 2020, www.art-of-assembly.net.
Ausgabe VII: Agonistic Gatherings
mit Didier Eribon, Chantal Mouffe
Ausgabe VI: Assembling More Than Humans
mit (Radha D‘Souza, Sibylle Peters
Ausgabe V: Versammlung der Vielen
mit Eduard Freudmann, Gin Müller, Heidrun Primas, Philine Rinnert
Ausgabe IV: Choirs of Precarity & Power
mit Claudia Bosse, The Church of Stop Shopping, Alia Mossallam
Ausgabe III: Assemblism
mit Jonas Staal, Jodi Dean
Ausgabe II: Assemblies as Backbones of Social Movements
mit Oliver Ressler, Julia Ramírez-Blanco
Ausgabe I: Assembly as Preenactment
mit Oliver Marchart, Dana Yahalomi
Moderation: Florian Malzacher
Bisherige Gäste Didier Eribon, Chantal Mouffe, D‘Souza & Sibylle Peters, Eduard Freudmann, Gin Müller, Heidrun Primas, Philine Rinnert, Claudia Bosse, The Church of Stop Shopping, Alia Mossallam, Jonas Staal, Jodi Dean, Oliver Ressler, Julia Ramírez-Blanco, Oliver Marchart, Dana Yahalomi. Zukünftige Gäste u. a. Nora Sternfeld u.a. andcompany&Co., School of Activism / NT Gent mit Milo Rau u.v.m.
The Art of Assembly – Gesellschaftsspiele, eine Reihe von Florian Malzacher und brut Wien, in Kooperation mit Münchner Kammerspiele, Wiener Festwochen, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Berlin), BIT Teatergarasjen / METEOR 2021 und Goethe-Institut